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Ave maris stella
Weihnachtliche Vokalmusik von Monteverdi bis Rutter
In einem Chorkonzert, das auf das kommende Christfest einstimmen möchte, dürfen Marienlieder nicht fehlen. Denn die simple Erkenntnis: Ohne die Jungfrau – kein Jesuskind! hat Komponisten zu allen Zeiten bewogen, ihr musikalisch Tribut zu zollen: Beispielsweise mit dem bekannten Marien-Hymnus Ave maris stella, der die Gottesmutter als „Meerstern“ preist, der den verirrten Seefahrern den rechten Weg weist. Gleich fünf Vertonungen widmen sich heute Abend der „Stella maris“, auf deren Fürsprache gläubige Menschen in Not vertrauen. Sie zeigen, wie unterschiedlich die Komponisten mit dem gregorianischen Choral umgehen. Im Zentrum des Konzerts aber steht Wolfram Buchenbergs doppelchörige Motette Dum medium silentium, die zum Innehalten und zur Reflexion einlädt. Flankiert wird dieses sphärische Werk von einer Orgelimprovisation über Ave maris stella von Trond Kverno sowie der Brahms-Motette O Heiland, reiß die Himmel auf. Mit zwei gefühlvollen Christmas Carols von John Rutter entlässt die Camerata Vocale Freiburg ihr Publikum zum Schluss in eine hoffentlich friedliche und besinnliche Adventszeit.
Claudio Monteverdi (1567 – 1643)
Monteverdis 76 Jahre umfassende Lebensspanne markiert die Wende von der Renaissance zum Barock, eine unruhige Epoche, die einerseits von grausamen Religionskriegen, andererseits aber auch von naturwissenschaftlichen Umwälzungen geprägt war, die das mittelalterliche, geozentrische Weltbild erschütterten. Diese konfessionellen und szientifischen Umbrüche bildeten den Nährboden für eine Musik, in der die Komponisten ihren individuellen Gefühlen mit einem stilistischen Wandel leidenschaftlich Ausdruck verliehen. Auch Monteverdis sakrales Hauptwerk, seine virtuose Marienvesper (1610), ist über weite Strecken geprägt von dieser neuen Ästhetik.
Ave maris stella ist die zwölfte Nummer der Vespro della Beata Vergine und quasi die kompositorische „Blaupause“ für viele weitere Vertonungen des Hymnus‘ aus dem 8. Jahrhundert. Monteverdi versieht die Strophen mit der tradierten Choralmelodie, die zu Beginn und am Schluss des Stückes in der Oberstimme eines achtstimmigen Satzes zu hören ist. Die homophonen, bewegteren Mittelstrophen verteilen sich auf zwei getrennte Chöre und kreieren eine „Raummusik“ von erhabener Größe. Das bildstarke Gedicht entwirft dabei im Zeichen des Meeres, seiner ungeheuren Weite und Tiefe, ein symbolisches Portrait der Seele Marias. Sie ist das Gefäß, das sich ganz der Liebe Gottes öffnet, um darin seinen Sohn zu empfangen. In der zweiten Strophe verweist das Palindrom AVE EVA darauf, dass der Engelgruß an Maria, wie ihn das Lukasevangelium schildert, den Anbruch des Heils signalisiert, denn diese sühnt mit ihrem Gehorsam Evas Sünde und ermöglicht so das Erlösungswerk Christi: „Du nahmst an das AVE aus des Engels Munde. Wende den Namen EVA, bring uns Gottes Frieden“.
Otto Olsson (1879 – 1964)
Der schwedische Organist und Komponist Olsson wurde 1879 in Stockholm geboren. Neben einer erfolgreichen Karriere als Konzertorganist hatte er ab 1926 eine Orgel-Professur inne, widmete sich aber auch weiter dem Komponieren. Sein instrumentaler Personalstil orientiert sich an der französischen Orgelromantik, während in seinem vokalen Oeuvre neben zeittypischer Harmonik auch eklektische Einflüsse einer intensiven Beschäftigung mit der Alten Musik und der Gregorianik aufscheinen.
Zu Olssons 70 Chorwerken gehört das 1912 komponierte Ave maris stella aus seinen sechs Lateinischen Hymnen op. 40. Beim Hören erinnert der kontrapunktisch gearbeitete Satz, in dem die Altstimmen den Choral als Cantus firmus intonieren, stark an den Kirchenstil Palestrinas, der aber durch die spätromantische Harmonisierung eine ganz individuelle Prägung erfährt. Maria wird hier auch psychologisch zum Leitbild aller Suchenden, die ihren inneren Kompass im Ozean des Lebens verloren haben. Am Firmament leuchtend vermittelt die „felix coeli porta“ („glückliche Himmelspforte“) zwischen den Welten, der natürlichen und der übernatürlichen, und verbindet so den Menschen mit Gott.
Johannes Brahms (1833 – 1897)
Auch wenn Brahms als Meister des musikalischen Handwerks und der thematischen Arbeit gilt, kann er mit seiner avancierten Harmonik seine Zugehörigkeit zur Epoche der Romantik nicht verleugnen. Besonders in seiner geistlichen Vokalmusik stößt Brahms in Ausdrucksregionen von musikpsychologischer Qualität vor. Gleichzeitig hält mit dem Cäcilianismus im 19. Jahrhundert die hohe Kunst des Kontrapunkts wieder Einzug in die Werkstätten der Komponisten. Brahms‘ Stil verbindet beide Aspekte und befreit – wenn man so will – den Chor vom „nur“ romantischen Sound, ohne dass der Satz andererseits in puren Historismus abgleitet.
Ein faszinierendes Beispiel für diese Synthese ist die 1860 entstandene Motette O Heiland, reiß die Himmel auf, die Brahms erst sehr viel später zusammen mit der berühmten Warum-Motette als op. 74 herausgab. Das vierstimmige Stück vertont ein beliebtes Adventslied des Jesuiten Friedrich Spee (1591 – 1635), einem mutigen Kritiker der Hexenprozesse. In barocker Manier thematisiert der Autor darin die Sehnsucht nach dem Erlöser. Dabei werden positive Hoffnungsbilder (Öffnen des Himmels, Ausschlagen der Erde etc.), aber auch die humanen Erfahrungen von Leid und Tod, formuliert. In der Vertonung des 27-Jährigen basieren alle Sätze auf einem Choralthema, das als Cantus firmus von den Chorregistern abwechselnd vorgetragen wird. Neu ist, dass das Motivmaterial der Melodie sich interpretatorisch in viele Richtungen erstreckt: Jede Strophe orientiert sich in ihrer Gestalt an dem ihr zu Grunde liegenden Text, so dass sich ein jeweils spezifischer Grundcharakter ergibt: Beispielsweise der beständige Fluss des Regens (Nr. 2), der hörbar durch die Partitur tropft, oder auch die chromatische Alterationsharmonik im vierten Abschnitt, der sich den „letzten Dingen“ widmet und an die Musik Regers erinnert.
Trond Kverno (*1945)
Der in Oslo geborene zeitgenössische Komponist Kverno gehört zu den einflussreichsten Schöpfern von geistlicher und liturgischer Musik in Norwegen. Neben seiner Professur für Theorie fungiert er auch als Weihbischof der Altkatholischen Kirche und war Mitglied einer Kommission, die sich in den 70er Jahren mit der Reform gottesdienstlicher Musik befasste. Für Kverno steht bei seiner Arbeit nicht ästhetisches Vergnügen im Vordergrund, sondern die Gemeinde, die sich durch die Spiritualität des Gesangs der Transzendenz öffnet: „Ich würde meine Arbeit mit der eines Ikonenmalers vergleichen, bei dem jede Ikone ein Fenster zu einer anderen Realität als der ist, die uns umgibt.“
Sein 1976 entstandenes Ave maris stella gestaltet Kverno als simplen Wechselgesang von Männer- und Frauenstimmen im gregorianischen Gestus, ohne dabei die überlieferte Melodie zu verwenden. Nach einem rhythmisch rasanten Mittelteil im 5/4 Takt folgt eine kanonartige Verdichtung der Musik. Maria wird auch bei Kverno zum nautischen Fixpunkt für die Seele: So wie der Seefahrer sich am Polarstern orientiert, um Kurs zu halten, soll sich auch der Christ an der Muttergottes ein Beispiel nehmen, um ein gottgefälliges Leben zu führen. Kverno, der seine Werke immer auch als „klingende Predigt“ versteht, endet mit den im Piano frei vorzutragenden Ave Maria-Versen: „Ave, gratia plena. Dominus tecum. Benedicta tu in mulieribus.“ Auf diese Weise verknüpft Kverno die „weiblichen“ Grundgebete des Katholizismus zu einer artifiziellen Einheit.
Improvisation über Ave maris stella von Trond Kverno
Bereits ein Meister in dieser Königsdisziplin des Orgelspiels ist Niklas Jahn, der in diesem Jahr gleich zwei renommierte internationale Preise gewonnen hat: Im Juli belegte er den ersten Platz in St. Alban (Großbritannien), gefolgt von einer weiteren Erstplatzierung in Musashino-Tokio (Japan) im September. Für den angehenden Konzertmusiker ist das Improvisieren auf der Orgel ein komplexes „Vollwerk der Gedanken“, denn ERFINDEN und SPIELEN geschehen gleichzeitig! Jahn nennt es eine „Reise, von der man nicht weiß, wo sie hingeht.“ Als Basis für diese phantasievolle Reise ins Unbekannte dient ihm heute Abend Kvernos Ave maris stella.
Wolfram Buchenberg (*1962)
Der im Allgäu geborene Komponist Wolfram Buchenberg studierte zunächst Schulmusik an der Hochschule für Musik und Theater München und schloss daran ein Kompositionsstudium bei Dieter Acker an. Seit 1988 unterrichtet er Ensembleleitung und schulpraktisches Klavierspiel an der Münchener Hochschule, widmet sich heute aber vermehrt wieder seinem kompositorischen Werk, das die verschiedensten Gattungen umfasst, wenn auch eine besondere Vorliebe dem geistlichen Chorlied gilt. In einem Interview von 2022 erzählt Buchenberg: „Als 11-jähriger stolperte ich im Marktoberdorfer Gymnasium unvermutet in eine Probe von Bachs doppelchöriger Motette Singet dem Herrn und geriet lichterloh in Brand, durfte zwei Monate später selbst mitsingen und bin seitdem von Chormusik infiziert.“ Besonders den Gemeinschaftsaspekt des Singens betont Buchenberg, wenn er erklärt, dass ihn „der unmittelbare seelische Zugang der Menschen zueinander über ihre Stimme“ reizt.
Mit seinem kurz vor der Pandemie fertiggestellten A-cappella-Doppelchor Dum medium silentium findet er diesen Weg zum Gemüt ohne Mühe. Die zu Beginn im Pianissimo zu singenden Akkordüberblendungen kreieren clusterhafte Effekte, die sich im Laufe des Stücks zu einem strahlenden, glänzenden Klang auftürmen – eine Öffnung, die qua Kontemplation empfänglich machen soll für die alttestamentarischen Verse aus dem Buch der Weisheit, worin die Stille als Voraussetzung für die Geburt des Gotteswortes beschworen wird: „Als alle Dinge von tiefer Stille umgeben war, da kam, Herr, dein allmächtiges Wort vom Himmel“. Christen lesen diese salomonische Passage als Prophetie, die auf das Kommen des Messias vorausdeutet, der mit seinem Erscheinen die Dunkelheit der Welt erhellt.
Edvard Grieg (1843 – 1907)
Auch wenn die Lebensdaten des norwegischen Komponisten Edvard Grieg ins 20. Jahrhundert hineinragen, blieb er als Musiker doch eher einer musikalischen Tradition verpflichtet, die niemanden brüskierte. Trotzdem blieb Grieg von Tendenzen der frühen Moderne nicht unberührt, wie z. B. der Rückbesinnung auf volksmusikalische Wurzeln, die das erstarkende Nationalbewusstsein gerade von Ländern, die machtpolitisch eher am Rande standen, kulturell begleiteten. Der „Folklorismus“ erfüllte dabei eine doppelte Funktion: Er stiftete zum einen nationale Identität und enthielt außerdem das Potenzial eines Repertoires, das mit neuen Ideen angereichert werden konnte, ohne einen Bruch mit dem Publikum zu riskieren, den andere künstlerische Avantgarden bewusst in Kauf nahmen.
Zu Griegs bekanntesten Sakralsätzen gehört sein bezaubernd schlichtes Ave maris stella, das er zunächst als Sololied geschrieben und dann 1898 für gemischten Chor a cappella arrangiert hat. Der Komponist vertont darin den frühchristlichen Text mit einer Melodie von anrührender Schönheit und versehen mit Harmonien, die so vielschichtig sind wie das Meer selbst, an dessen nördlichen Gestaden Grieg fast sein ganzes Leben verbracht hat.
Don Macdonald (*1966)
Der preisgekrönte Komponist von Film- und Konzertmusik lebt momentan im kanadischen Nelson (British Columbia) und unterrichtet am Selkirk College das Fach Contemporary Music. Der umtriebige Komponist verfügt zudem über einen vielseitigen Hintergrund als Interpret, Pädagoge und Dirigent. Macdonald spielt professionell Saxophon und Violine und schreibt Filmmusiken für große amerikanische Studios, wie etwa 20th Century Fox. Aber auch Vokalwerke stehen auf der Agenda des 1966 geborenen Künstlers, der schon in jungen Jahren als Chorist aktiv war, was man seinen sanglichen Werken auch anhört. Macdonald schreibt eine eingängige Musik, die auch in Europa immer mehr Anhänger findet.
Sein 2017 komponiertes Ave maris stella ist ebenfalls geprägt von dieser unkomplizierten Ästhetik, die von einer Unterscheidung der Musik in „E“ und „U“ nichts weiß. Entstanden ist ein wunderschönes Stück mit langen Phrasen, deren Motivik sich aus einem Orgelpunkt aus Terzen entwickelt. Der ruhig fließende Duktus zielt dabei weniger auf die Illustration des Textes, sondern evoziert eher einen meditativen Zustand reiner Schönheit jenseits von Zeit und Raum, in dem man sich beim Anhören verlieren möchte.
Nach fünf völlig unterschiedlichen Versionen des Marienhymnus‘ noch ein abschließendes Wort zur Genese der Bezeichnung „Stella maris“. Kurioserweise beruht die Anrufung Marias als „Meerstern“ nämlich auf einem Lesefehler. Der Kirchenvater Hieronymus, der die Bibel aus dem Hebräischen ins Lateinische übersetzt hat, übertrug den hebräischen Namen Mirjam, bestehend aus „mir“ („Tropfen“) und „jam“ („Meer“), ganz korrekt mit „stilla maris“. Durch eine Lautverschiebung wurde später aus dem „i“ ein „e“, also aus „stilla“ ein „stella“. So wurde Maria zum „Stern“ der Meere! Die gehörte Musik ist ein schönes Beispiel für die künstlerische Karriere eines kleinen Irrtums mit großen Folgen.
John Rutter (*1945)
Der englische Komponist und Dirigent wurde 1945 in London geboren und hatte als Elfjähriger sein musikalisches Erweckungserlebnis bei Orffs Carmina Burana. Heute ist er als Gastdirigent und Dozent weltweit unterwegs und zählt sicher zu den gefragtesten Chor-Komponisten der Gegenwart. Für seine Arbeit wurde Rutter international ausgezeichnet, zuletzt 2019 mit dem renommierten Preis der Europäischen Kirchenmusik. „Singen ist Ausdruck der menschlichen Seele“, erklärt der Brite und fährt fort: „Wenn wir nicht mehr singen, bleibt die Seele im Körper gefangen – was weder uns noch der Gesellschaft guttut. Das Singen im Chor hat einen besonderen Wert, da es Menschen in Harmonie zusammenführt, zu einer Zeit, wo es in der Politik so viele Dissonanzen gibt.“
Dieses friedenstiftende Potenzial findet sich vor allem in den unzähligen Weihnachtsliedern, für die Rutter weltbekannt ist. In einem ausführlichen Interview im Dezember 2021 antwortet der Komponist auf die Frage, wie „Weihnachten“ denn klinge: „Ich glaube, Weihnachten ist die Zeit des Jahres, in der jeder an den Klang eines Chores denkt.“ Kein Wunder, dass kein Jahr ohne neue Carols von ihm vergeht. Voller Freude und Zärtlichkeit feiern diese fantasievollen Stücke die Geschehnisse der Heiligen Nacht. 1987 entstand für das populäre Weihnachtskonzert des altehrwürdigen Kings College sein Lied What sweeter music. Rutter vertont hier ein Gedicht des englischen Lyrikers Robert Herrick aus dem 17. Jahrhundert, das mit einer traumhaften Soprankantilene die Musik als höchste Gabe preist, die dem Jesuskind, dem „heavenly king“, dargebracht werden kann. Rutter wird aber auch nicht müde, eigene Texte für seine Chorlieder zu verfassen, wie z. B. für das ebenfalls instrumental begleitete Angel’s Carol (1988), mit dem sich die Camerata Vocale für dieses Jahr von ihrer Zuhörerschaft verabschiedet. „Have you heard the sound of the angel voices?“ fragt das Lied direkt zu Beginn auch Sie, liebes Publikum, stellvertretend für alle Menschen, damit niemand die frohe Kunde versäumt, die die himmlischen Boten den Hirten verkünden: nämlich die Geburt eines Kindes, das Liebe, Frieden und Hoffnung in die Welt bringt – eine Botschaft, die selten so wichtig war wie heute.
Norbert Eßer